Selbstbelastungsfreiheiten :Der nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht ( Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge )

Publication subTitle :Der nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht

Publication series :Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge

Author: Kölbel   Ralf  

Publisher: Duncker & Humblot GmbH‎

Publication year: 2011

E-ISBN: 9783428520398

P-ISBN(Paperback): 9783428120390

Subject:

Keyword: Rechts- und Staatswissenschaften

Language: GER

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Description

Für das Strafrecht der westlichen Moderne steht fest: "Nemo tenetur se ipsum accusare". Auch das deutsche Strafverfahren sieht hierin eine elementare Größe, die das eigene Selbstverständnis prägt. Doch zugleich gibt jener "nemo-tenetur-Satz" immer wieder Anlass zum Streit. Über seine positiv-rechtlichen Geltungsgrundlagen und seine theoretische Erklärbarkeit ist man sich ebenso uneins geblieben wie über die Details seiner Gewährleistungsstruktur. Angesichts dieses Widerspruchs zwischen ungeklärter Dogmatik und selbstverständlicher Dignität der Selbstbelastungsfreiheit wendet sich Ralf Kölbel in seiner Jenaer Habilitationsschrift einigen ihrer offenen Grundfragen zu. Im Anschluss an seine rechtsmethodischen Vorüberlegungen stellt er die sachstrukturellen Hintergründe, die rechtsgeschichtliche Entwicklung und die verfassungsrechtliche Basis des "nemo-tenetur-Satzes" dar. Im Verlauf der Untersuchung erweist sich die "nemo-tenetur-Formel" als Bezeichnung für einen Gewährleistungskomplex, der von der Zurückhaltung verfänglichen Wissens handelt und von einem Ensemble verschiedener Grundrechte getragen wird. Um diese Konzeption sodann exemplarisch zu vertiefen, widmet sich der Autor den bislang kaum thematisierten materiell-strafrechtlichen Bezügen der Selbstbelastungsfreiheit. Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei die Wechselwirkungen zwischen den einschlägigen Straf- und Verfassungsnormen. Bei deren Analyse zeigt sich die Notwendigkeit, "praktische Konkordanz" zwischen dem "nemo-tenetur-Interesse" und kollidierenden Belangen herzustellen. Unter den Möglichkeiten, die das geltende Recht hierfür zur Verfügung stellt, findet der Autor in einem abgestimmten System aus einschränkender Straftatbestandsauslegung und Beweisverwertungsverbot die überzeugendste Lösung.

Chapter

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1: Bestandsaufnahme

1. Kapitel: Facetten und Strukturen des nemo-tenetur-Satzes

I. Vorbemerkung: Zugang zu einer unübersichtlichen Diskussion

II. Elemente des Schweigerechts in der Vernehmung

1. Gewährleistete Schweigethemen

2. Recht auf Lüge?

3. Die Zeitdimension

4. Das Zwangsmittelverbot

a) Beweismethodenverbote: § 136a StPO

b) Keine Benachteiligung des schweigenden Beschuldigten

aa) Strafzumessungsentscheidung

bb) Kostenentscheidung

cc) Beweiswürdigung

5. Schutz der Aussagefreiheit durch Verfahrensrechte

III. Mitwirkungsfreiheit im Ermittlungsverfahren

1. Handlungs- und Duldungspflichten

2. Heimliche Ermittlungen und der Schutz vor Täuschung

a) Die Hörfallen-Debatte

b) Sonstige Formen der verdeckten Ermittlung

IV. Selbstbelastungsfreiheit außerhalb der Beschuldigtenrolle

1. Die strafprozessuale Indienstnahme des Dritten

a) Das Schweigerecht des Zeugen

b) Schweigerecht bei ungeklärter Prozessrolle

c) Strafprozessuale Inanspruchnahme Unverdächtiger

2. Selbstbelastungsschutz im außerstrafprozessualen Kontext

a) Auskunftspflichten

b) Mitwirkungslasten

c) Dokumentations- und Vorlagepflichten

d) Insbesondere: Besteuerungsverfahren

V. Strukturerweiterungen

1. Drohende nichtstrafrechtliche Sanktion

2. Angehörigenschutz durch nemo tenetur?

3. Adressaten des nemo-tenetur-Satzes

VI. Insonderheit: Straftatbestandliche Selbstbelastung?

1. Selbstanzeigepflichten

2. Selbstbegünstigungsprivilegien

3. Straftatbestandliche Selbstbelastungspflichten

VII. Fazit: Rekonstruktion des vorherrschenden nemo-tenetur-Konzeptes

1. Gehalt der Selbstbelastungsfreiheit

2. Normstruktur der Selbstbelastungsfreiheit

3. Am Rande: Zum Vokabular

2. Kapitel: Das Untersuchungsprogramm

I. Über die Stoßrichtung des anschließenden Vorgehens

II. Beispiele einer methodisch fragwürdigen Praxis

III. Fazit: Die erforderlichen Arbeitsschritte

Teil 2: Anforderungen an die nemo-tenetur-Konkretisierung

3. Kapitel: Das Rechtsgewinnungsverfahren

I. Abriss zur Strukturierenden Rechtslehre

1. Das Normkonkretisierungsmodell (Ablauf der Normkonstruktion)

2. Fachexterne Bestätigung der theoretischen Grundannahmen

3. Besonderheiten wissenschaftlich-dogmatischer Normkonkretisierung

a) Vorüberlegungen

b) Sozialwissenschaft in der derzeitigen Straf- und Strafprozessrechtsdogmatik

c) Wissenschaftlich-dogmatische Arbeitsweise aus Sicht der Strukturierenden Rechtslehre

II. Methoden der straf- und strafprozessrechtswissenschaftlichen Dogmatik

1. Grundlagen

2. Analyse straf- und strafprozessrechtlicher Normprogramme

a) Normtextbezogene Konkretisierungselemente

b) Insbesondere: Das teleologische Argument

aa) Strafrechtsgut

bb) Strafprozessuale Regelungszwecke

c) Nichtnormtextbezogene Konkretisierungselemente

d) Wortlautgrenze

3. Analyse straf- und strafprozessrechtlicher Normbereiche

III. Konsequenzen für die rechtswissenschaftliche Arbeit an nemo tenetur

4. Kapitel: Systematische Rahmenstruktur von nemo tenetur

I. Vielstimmigkeit der nemo-tenetur-Rechtsquellen

II. Selbstbelastungsfreiheit im hierarchischen Teil des Normnetzwerks

1. Das Verhältnis von Grundrechten und Gesetz

a) Nachrang und Grundrechtsorientierung einfachen Rechts

b) Grundrechtsausgestaltung durch einfaches Recht

2. Nemo tenetur zwischen Grundrecht und Gesetz

a) Grundrechtsprägung

b) Gesetzesprägung

III. Selbstbelastungsfreiheit im horizontalen Teil des Normnetzwerks

1. Einheit der Rechtsordnung als nutzlose Fiktion

2. Die fragmentwahrende Strafrechtsauslegung

a) Wechselwirkungen von Straf- und Strafverfahrensrecht

b) Kollision von impliziten und expliziten Verhaltensnormen

c) Strafrecht und fragmentwahrende Auslegung

IV. Fazit

Teil 3: Grundfragen des nemo-tenetur-Satzes

5. Kapitel: Sachbezug der Selbstbelastungsfreiheit

I. Das Beschuldigtengeheimnis und sein rechtlicher Schutz

1. Geheimnisorientierung als soziales Handlungsmuster

a) Soziale Relevanz des Geheimnisses

b) Geheimnisinhalte

2. Geständnisorientierung als soziales Handlungsmuster

a) Die Ausbreitung des Geständnisses

b) Kultureller Nachrang des Geständnisses

3. Geheimhaltung im Strafrechtssystem

a) Die „Rezeption“ des Geheimnismusters durch das Recht

b) Geheimnis und Geständnis in der Prozesswelt

aa) Verteidigung und Geheimhaltung

bb) Geständnis als Handlungsziel

cc) Die kommunikative Produktion des Geständnisses

dd) Geständnis per Interaktionsdeutung

ee) Exkurs: Verdecktes Enthüllen

4. Zwischenbilanz

II. Notwendigkeit des Geheimnisschutzes?

1. Nemo tenetur und individuelle Belange

a) Ein nüchterner Vorschlag

b) Der grundsätzliche Einwand

2. Legitimation des Verfahrens

3. Akkusatorische Beweisstruktur

4. Kompensatorische Prozessrollengestaltung

5. Schlussbemerkung: Begrenzte Rationalität der Freiheitsrechte

6. Kapitel: Geschichte des nemo-tenetur-Satzes

I. Die Phase des Selbstbezichtigungszwangs

1. Das mittelalterliche Anklageverfahren

2. Das frühe Inquisitionsverfahren

3. Die Carolina (CCC)

4. Fortschreibung des Inquisitionsverfahrens

5. Zwischenergebnis

II. Die Genese positivierter Mitwirkungsfreiheiten

1. Auflösung alter Prozessstrukturen

2. Die Grundlage für den Wegfall des Aussagezwangs

3. Der Reformdiskurs zur Mitwirkungsfreiheit

4. Die reichseinheitliche Einführung der Geständnisfreiheit

5. Die Selbstbelastungsfreiheit unter dem Reichsstrafprozessrecht

6. Weimarer Zeit und Nationalsozialismus

7. Strafprozessgesetzgebung nach 1945

8. Rechtsdogmatischer Ertrag

7. Kapitel: Verfassungsrechtliches Fundament

I. Rechtsgrundlagenbestimmung: „Vorverständnis und Methodenwahl“

1. Kritik des herkömmlichen Vorgehens

a) Die Suche nach einem Geltungs-Alibi

b) Die Mängel der „Steckbriefmethode“

2. Transparente Hermeneutik

II. Verfassungsrechtliche Strafvereitelungsfreiheiten

1. Die Devise vom „weiten“ Grundrechtstatbestand

2. Einzelgrundrechtliche Strafvereitelungsfreiheiten

a) Die allgemeinen Abwehrrechte

aa) Schutz vor staatlicher Ermittlung

bb) Insonderheit: Persönlichkeitsrechte

cc) Abwehrrechte aus der Menschenwürde?

b) Schutzeffekt von Handlungsrechten

aa) Allgemeine Handlungsfreiheit

bb) Meinungsäußerungsfreiheit

cc) Gewissensausübungsfreiheit

c) Spezifische prozessuale Verbürgungen

aa) Verfahrensgrundrechte

bb) Fairnessprinzip

cc) Unschuldsvermutung

3. Fazit

8. Kapitel: Nemo tenetur als Grundrechtsausschnitt

I. Der zu nemo tenetur gehörende Grundrechtskomplex

1. Stellenwert der nemo-tenetur-Formel

2. Auswahl des zu nemo tenetur gehörenden Grundrechtskomplexes

a) Merkmale des Schutzgegenstands

b) Die Rechtsgrundlagen-Familie

II. Gewährleistungsstrukturen

1. Produktionskontext

2. Personelle Gewährleistungen

3. Eingriffsresistenz

Teil 4: Selbstbelastungsfreiheit und Strafrecht

9. Kapitel: Strafrechtliche Einwirkung auf nemo tenetur

I. Unterschiede strafgesetzlicher Grundrechtsrelevanz

II. Strafgesetzliche Eingriffe in nemo-tenetur-Grundrechte

1. Tatbestandsimplizite Verhaltensnormen

a) Eingriff durch finale Selbstbelastungspflichten

b) Eingriff durch finales Verbot aktiver Verheimlichung

c) Geheimhaltungserschwernis als mittelbarer Eingriff

aa) Nicht-imperative Geheimhaltungshindernisse

bb) Eingriffswert nicht-imperativer Erschwernisse

2. Sanktionsnormen

3. Nemo-tenetur-Eingriff durch Sanktionsakte

a) Strafschärfung wegen Nachtatverhaltens

b) Eingriff durch materiell-strafrechtliche Angebote?

aa) Das dogmatische Problem

bb) Die unproblematischen Angebotsfälle

cc) Die eingriffswertigen Angebotsfälle

III. Fortbildung der nemo-tenetur-Grundrechte durch Eingriffsverzicht

1. Straftatbestandliche Privilegierungen

2. Unvollkommene Privilegierungen

3. Klarstellend: Rest-Eingriffe durch Privilegierungsgrenzen

IV. Strafrechtsschutz der nemo-tenetur-Grundrechte

V. Fazit

10. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit des nemo-tenetur-Strafrechts

I. Verfassungsmäßigkeit des Verhaltensregimes

1. Ziele strafrechtlicher Verhaltensnormen

2. Eignung strafrechtlicher Verhaltensnormen

3. Erforderlichkeit strafrechtlicher Verhaltensnormen

a) Zweckverfolgung durch nicht-imperative Alternativen

b) Zweckverfolgung durch alternative Strafnormen

c) Zweckverfolgung durch anderweitige Strafnormen

4. Angemessenheit der strafrechtlichen Verhaltensnormen

a) Praktische Konkordanz

b) Verfügbare Abwägungsposten

aa) Bemakelung des Geheimhaltungsinteresses?

bb) Aufwertung der kollidierenden Güter?

cc) Selbstbelastungszwang zur Strafverfolgung?

II. Verfassungsmäßigkeit des Sanktionsregimes

1. Strafbewehrung und Strafprivilegien

2. Strafschärfungsfälle

III. Nemo-tenetur-schützendes Strafrecht

IV. Fazit

11. Kapitel: Prozessrechtsbindungen des nemo-tenetur-Strafrechts

I. Zur Erinnerung: Das Verfahren der fragmentwahrenden Auslegung

II. Fragmentwahrende Auslegung des Selbstbelastungs-Strafrechts

1. Prozessverhalten des Angeklagten

a) Drittbeeinträchtigende Verfahrenseinlassung

b) Beweislagentrübung mittels Beweisantrags

aa) Problemstruktur

bb) Reichweite des Beweisantragsrechts

cc) Einwände

dd) Präzisierungen

c) Strafbarkeit und Non-Aktivität

aa) Schweigen als Unterlassensbeihilfe?

bb) Aktivbeihilfe durch schweigeadäquates Verhalten?

cc) Prozessrechtliche Schweigeerlaubnis

2. Prozessuale Aktionsformen des Verteidigers

a) Strafvereitelung per Anwaltsratschlag?

b) Strafbarkeit der Informationsweitergabe?

3. Geheimniswahrung in der Zeugenrolle

a) Zeugenstatus trotz Beteiligungsverdachts?

b) Verfahrensfehler und Falschaussage

aa) Prozesspflicht zum wahren Zeugnis

bb) Beispiel: Falschaussage nach Belehrungsdefizit

III. Fazit

12. Kapitel: Praktische Konkordanz im Selbstbelastungs-Strafrecht

I. Vorauswahl der Konkordanzmodelle

1. Lösungen im Produktionskontext

a) Suspendierung der strafrechtlichen Verhaltensnorm

b) Sekundärrechtliche Konzession

c) Insbesondere: Der Zumutbarkeitsvorbehalt

d) Konfliktmindernde Tatbestandsauslegung

2. Lösungen im Verwendungskontext

a) Entschärfung des Wissens

aa) Durch nachtatliche Normtreue konditionierter Sanktionsverzicht

bb) Durch nachtatliche Normtreue konditionierte Sanktionsmilderung

b) Schranken der Wissensverwendung

II. Rechtsmethodische Zulässigkeit der Konkordanzmodelle

1. Begründung des Beweisverwertungsverbots

a) Die konstitutionelle Rechtsgrundlage

b) Zur Ausgestaltung des Verwertungsverbots

c) Ausnahmen vom Verwertungsverbot durch einfaches Recht?

2. Begründung des Strafmilderungsmodells

3. Verhältnis von beweis- und strafzumessungsrechtlicher Lösung

III. Das Programm der konfliktmindernden Tatbestandsauslegung

1. Tatbestandslosigkeit bagatellschädigender Geheimhaltung

2. Vorbehalte?

3. Beispieltatbestände

a) § 142 I – III StGB

b) § 153 StGB

4. Vorrang der materiell-strafrechtlichen vor der prozessualen Lösung

5. Exemplarische Konsequenzen

IV. Fazit

Gesamtbilanz

Literaturverzeichnis

Sachregister

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