Description
Mit den Rationalisierungsbemühungen der Frühneuzeit ergeben sich weiterreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis der Individuen als soziale wie moralische Akteure. Grundlegend ist dabei die Verinnerlichung verbindlichkeitsverbürgender Geltungsmaßstäbe der Moral. Dort, wo rein äußerliche, zivilrechtliche Normen nicht ausreichen, um Stabilität zu garantieren, werden durch Rekurs auf die rationale Einsicht des Vernunftsubjekts anthropologisch legitimierte, natur- und völkerrechtliche Normen eingesetzt, deren Verbindlichkeit internalistischen Legitimationsstrategien unterliegt. Die Beiträge dieses Sammelbandes nehmen aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive die Verschiebungen, Umbrüche und Verwerfungen in den Blick, die der tradierte Begriff der Verbindlichkeit im 18. und frühen 19. Jahrhundert erfahren hat. Dabei liegt nicht nur ein Fokus auf der kantischen Moralphilosophie als dem Höhepunkt einer spezifisch neuzeitlichen Entwicklung, sondern es werden auch alternative Konzepte von Verbindlichkeit in den Blick genommen, die durch Literatur, Ästhetik, Politik und Pädagogik formuliert wurden.
Chapter
Frühneuzeitliche Verbindlichkeitskonzepte und ihre Entwicklung im 18. Jahrhundert
Oliver Bach: Obligatio. Instanzen und Fundamente von Verbindlichkeit: Melanchthon – Pufendorf – Hobbes – Rousseau
Dieter Hüning: Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff
A. Einleitende Bemerkungen
B. Der Begriff der Verbindlichkeit bei Samuel Pufendorf
C. Wolffs Begründung der obligatio naturalis
Katerina Mihaylova: Vernunft und Verbindlichkeit. Moralische Wahrheit im Natur- und Völkerrecht der deutschen Aufklärung
B. Verbindlichkeit durch rationale Selbstbestimmung
C. Verbindlichkeit durch moralische Wahrheit
Verbindlichkeit in der praktischen Philosophie Immanuel Kants
Stephan Zimmermann: Praktische Kontingenz. Kant über Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft
Günter Zöller: „[O]hne Hofnung und Furcht“. Kants Naturrecht Feyerabend über den Grund der Verbindlichkeit zu einer Handlung
A. Recht und Moral, Ethik und Politik
Bernhard Jakl: Die Verbindlichkeit des Rechts. Kantische Überlegungen zum Verhältnis von privater und staatlicher Normenbegründung
A. Recht und Selbstbestimmung
B. Private und staatliche Normenbegründung bei der Rechtsrealisierung
C. Zur Gegenwart der kantischen Rechtsphilosophie
Daniela Ringkamp: Erlaubnis, Erlaubnisgesetz und Verbindlichkeit in Kants Praktischer Philosophie
A. Das Erlaubnisgesetz bei Kant: unterschiedliche Verwendungsweisen und Auslegungen
B. Das Erlaubnisgesetz in der Rechtslehre
C. Gebote, Verbote und bloß erlaubte Handlungen: Die Ansätze von Hruschka und Brandt
I. Erlaubnisse als merely allowed actions
II.2. Das Erlaubnisgesetz als Regulierungsinstrument von Geboten und Verboten
D. Erlaubnisgesetz, Verbindlichkeit und die „Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes“
Michael Städtler: Warum ist „[d]er Ursprung der obersten Gewalt […] für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich“? Über systematische Gründe politisch-juridischer Verbindlichkeit bei Kant
A. Verbindlichkeit und System
I. Das neuzeitliche Problem der Verbindlichkeit
II. Die Einheit des Rechts in der Einheit des Systems
B. Kants Begriff der Rechtsgeschichte
I. Geschichte als Brechung des natürlichen Widerstands der Menschen
II. Recht als Ordnung gebrochenen Widerstands
III. Widerstand als Bedrohung rechtlicher Ordnung
Pluralisierung der Verbindlichkeitsdiskurse
Carolin Pecho: Habsburger-Portraits als Kristallisationspunkte einer verbindlichen Politik Anfang des 17. Jahrhunderts
I. Bildanalyse – Changieren zwischen individueller Funktion und Positionierung im dynastischen Kontext
III. Die Brüder – nachgeordnete Positionen im Netzwerk?
Till Kinzel: Fiktionale Diskurse der Verbindlichkeit in der britischen Literatur des 18. Jahrhunderts von Daniel Defoe bis William Godwin
A. Defoes fiktionale Naturrechtsdisputation und Shaftesburys Ethik des moral sense
B. Absolute Tugendlehren zwischen relativistischem Zweifel und mathematischer Gewissheit
C. Verhandlungen über Pflichten in der Familie: Bilder und Szenen der Verbindlichkeit in Samuel Richardsons Briefroman Clarissa
D. Richardson und Mandeville
E. Sentimentale Reisen im Reich der Tugend: Verbindlichkeit und Empfindsamkeit
F. Die reductio ad absurdum einer verbindlichen Moral durch hypothetische Konsequenzenberechnung: William Godwin und seine Kritiker
Kevin Dear: Verbindlichkeit in der Aufklärungspädagogik Anmerkungen zu Pestalozzi
A. Motive der Aufklärungspädagogik
B. Über Pestalozzis Nachforschungen
II. Im gesellschaftlichen Zustand
III. Im sittlichen Zustand
C. Einflüsse: Rousseau und Kant
Hauke Kuhlmann: Dialog, Verbindlichkeit und Handlungsbrüche in Goethes Iphigenie auf Tauris
C. Relativierte Verbindlichkeit und situative Evidenz
D. Neueinsätze im Dialog und die Brüchigkeit der Handlung
Georg Eckert: Beliebige Verbindlichkeiten. Zur Formierung eines Konzepts an der Wende zum 19. Jahrhundert
A. Naturrecht und Geselligkeit: Vom Aufstieg der Verbindlichkeit
B. Unterwegs zur Indifferenz: Die Französische Revolution als Fanal der Unverbindlichkeit
C. Verbindlichkeiten, doch beliebige: Utilität als neue Kategorie
D. Rückblick und Ausblick: Geschichte als Ausweg aus der Beliebigkeit
Simon Bunke: Schillers Wallenstein als Drama der Verbindlichkeit
Christian Sinn: Vorschule der Ästhetik. Zur Verbindlichkeit unverbindlicher Definitionen bei Jean Paul
A. Verbindlichkeitsherstellung qua Intermedialität
B. Semiologie der Wissenschaft
C. ‚Natur‘ als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium